An der Uferpromenade von Güzelcamli an der türkischen Ägäis sehe ich einen alten Holzsteg, der ins Meer gebaut wurde. Intuitiv hebe ich meine Kamera, da ich mir zusammen mit der waagrechten Linie des Horizonts und den unterschiedlichen Grauwerten des wolkenverhangenen Tages eine schöne Aufnahme erhoffe. In diesem Moment springt dieser Junge vor meinen gewählten Bildausschnitt. «Foto, Foto», ruft er und zeigt mir mit vorgestreckter Hand, dass ich noch warten solle mit fotografieren. Spontan drücke ich auf den Auslöser der Kamera. Es bleibt mir keine Zeit zum Nachdenken. Mit seiner anderen Hand winkt er seine Freunde zusammen. Zwei Handzeichen auf einmal und seine freudige Erwartung in seinem Gesicht versprechen eine gute Aufnahme. Der Hintergrund stimmt sowieso durch den bereits vorher ausgewählten Bildausschnitt.
Ich wusste bereits im Voraus, dass mich das Gruppenbild weniger interessieren würde. Dennoch machte ich dem Jungen diesen Gefallen und drückte weiter ab, als sie sich umarmend gruppiert hatten. Einen kurzen Moment dachte ich, dass er Geld verlangen wolle fürs Posieren, was ich mit einer anderen Handgeste verstanden hätte. Aber dies war nicht seine Absicht. Er wollte einfach nur zusammen mit seinen Freunden fotografiert werden. Oder vielleicht wusste er, dass Touristen gerne Kinder fotografieren und wollte mir eine Freude bereiten, auch wenn ich diese Absicht gar nicht hatte. Natürlich habe ich ihn nicht verstanden, da er nur türkisch sprach. So erfuhr ich nicht einmal seinen Namen. Ich zeigte ihm die gemachte Gruppenfoto auf dem Display der Kamera und er war zufrieden damit. So schnell wie die drei türkischen Jungen aufgetaucht waren, so schnell waren sie auch wieder verschwunden und ich setzte meinen Spaziergang an der Uferpromenade von Güzelcamli fort mit der Vorahnung mindestens eine gute Fotografie auf der Speicherkarte meiner Fotokamera zu haben.
Die geglückte Fotografie liegt zwischen zwei Absichten, der meinen und der seinen. Ich wollte das Meer fotografieren mit dem alten Holzsteg. Er wollte sich und seine Freunde fotografieren lassen. Sowohl meine wie seine Absicht ergaben nicht besonders spannende Aufnahmen. Die Fotografie dazwischen jedoch, scheint mir am reizvollsten.
Das Gruppenbild ist gestellt, die Fotografie davor ist nicht gestellt. Dadurch erhält sie mehr Authentizität. Sie wirkt echter, glaubwürdiger und dadurch der Wahrheit naher. Der Junge verhält sich so, wie er in diesem kurzen Moment ist. Auch wenn ich nichts über diesen Jungen weiss, erkenne ich in ihm den Anführer der kleinen Gruppe, die er mit Handzeichen dirigiert, so wie er auch mich mit einem Handzeichen dirigieren wollte.
Das Gruppenbild ist auch echt und glaubwürdig und dennoch weniger authentisch, weil sich die Jungen so verhalten, wie sie denken, dass sie gefallen würden.
Authentizität ist nicht per se ein Kriterium für gute Fotografie. Auch inszenierte Fotografie kann grossartig sein. Aber in diesem Fall mit dem Jungen von Güzelcamli macht sie den Reiz der Fotografie aus.