March 4, 2016 / erstellt am:  March 4, 2016
aufgefallen, gefallen, Kunst, Ausstellung

Die Vergeblichkeit des Begehrens...

...und die Vergänglichkeit des Augenblicks*

Ein schlanker Junge hält ein Rad in seinen Händen. Er schaut uns mit ausdrucksloser Miene durch die Speichen hindurch an. Er trägt kurze blaue Hosen, ein dunkelblaues ärmelloses Unterleibchen und auf dem Kopf ein blaues, beinahe schwarzes Béret. Ich schätze sein Alter auf ungefähr 14 Jahre. Im leicht abgedunkelten Hintergrund sind die stilisierten Umrisse einer Stadt in der Dämmerung zu erkennen vor einem wolkenlosen Himmel der gegen oben ins Graue verläuft. Durch den bilddominierenden Kreis des Rades mit den ins Zentrum verlaufenden Speichen wirkt das Bild sehr plakativ. Wie Gitterstäbe eines Gefängnisses schaffen die Speichen des Rades Distanz zwischen dem Betrachter und dem abgebildeten Jungen.

Eines von vielen Bildern des eher unbekannten Malers Ricco Wassmer (1915 - 1972), welches ich in der Ausstellung im Kunstmuseum in Bern entdeckte. Zum 100. Geburtstag ehrte das Kunstmuseum den Berner Künstler mit einer grossen Retrospektive. Da in einigen Zeitungsartikeln zu dieser Ausstellung über die rätselhaften Bildwelten und die malerischen Qualitäten von Ricco Wassmer geschrieben wurde, verzichte ich darauf einzugehen und fokussiere mich auf einen Aspekt, der mich nach der Ausstellung beschäftigte.

Dem Maler Ricco Wassmer eine pädophile Neigung zuzusprechen ist einerseits offensichtlich und andererseits natürlich eine gewagte These. Offensichtlich weil auf vielen Bildern und vor allem auf den Bildern seines Spätwerkes viele Jünglinge zum Teil nackt oder halbnackt dargestellt sind. Eine gewagte These, weil das Thema Pädophile in unserer Gesellschaft ein Tabuthema ist. Dies zeigt sich auch in den Texten, die zu dieser Ausstellung geschrieben wurden. Das Wort pädophil taucht nirgendwo auf. Es wird von homophiler Neigung gesprochen.

«Schutzalter (Art. 187): Wer mit einem Kind unter 16 Jahren eine sexuelle Handlung vornimmt, es zu einer solchen Handlung verleitet oder es in eine sexuelle Handlung einbezieht, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis bestraft. Die Handlung ist nicht strafbar, wenn der Altersunterschied zwischen den Beteiligten nicht mehr als drei Jahre beträgt.» (Strafgesetzbuch)

Von 1942 bis 1992 war das Schutzalter für Homosexualität sogar bei 20 Jahren. Allerdings wissen wir nicht, ob Ricco Wassmer tatsächlich Sex mit Heranwachsenden hatte. Im Dokumentarfilm «Ricco» von Mike Wildbolz kommt unter anderen François Mignon zu Wort, der als Jugendlicher Modell stand und sagt, dass es nie zu sexuellen Übergriffen kam. Andererseits reiste Ricco Wassmer öfters nach Thailand, wo er wahrscheinlich nicht nur neue Inspirationen für seine Bilder fand.

«In der Sexualwissenschaft wird diskutiert, ob Pädophilie als sexuelle Identität angesehen werden muss. Eine Abgrenzung zwischen Pädophilie, bei der sich das begehrte Objekt im präpubertären Stadium befindet, und der unter Hebephilie beschriebenen Zuneigung zu Pubertierenden sowie der als Parthenophilie bzw. Ephebophilie bezeichneten Präferenz für post-pubertäre Jugendliche wird in der Öffentlichkeit oft nicht vorgenommen, ist aber sexualwissenschaftlich wie kriminologisch von großer Bedeutung.» (Wikipedia)

«Seine Ephebophilie, seine ästhetische - und höchstwahrscheinlich auch sexuelle - Liebe zu zartgliedrigen Jünglingen, wird ihm zum Verhängnis: Als die Polizei bei einer Hausdurchsuchung in seinem französischen Wohnsitz Schloss Bompré Aktfotos von jungen Männern findet, wird Ricco eines Sittlichkeitsdeliktes bezichtigt und muss eine achtmonatige Haftstrafe absitzen.» (Alexandra Stäheli, NZZ 30.09.2002)

Aber eigentlich geht es gar nicht darum, ob Ricco Wassmer padophil war oder nicht. Es geht viel eher darum, wie heute mit diesem Tabuthema umgegangen wird.

«Ich wünsche mir noch mehr gesellschaftliche Aufklärung. Wir brauchen eine Enttabuisierung und Entstigmatisierung der sexuellen Präferenz Pädophilie. Und wir müssen deutlicher zwischen sexueller Präferenz und sexuellem Verhalten trennen. Es ist auch im Sinne einer erfolgreichen Prävention wichtig, unaufgeregter und differenzierter über das Thema zu sprechen. Diese Differenzierung ist natürlich schwer, weil das Thema sexueller Kindesmissbrauch eines der schlimmsten Verbrechen überhaupt ist. Aber es gibt viele pädophile Menschen, die diese Neigung haben. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Denn wenn Pädophilie und Kindesmissbrauch gleichgesetzt werden, führt das dazu, dass sich die betroffenen Menschen isolieren. Und dadurch wächst das Risiko, dass sie ihre Neigung ausleben.» (Jens Wagner, Mitarbeiter des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Berliner Charité und Pressesprecher des Präventionsnetzwerks «Kein Täter werden».)

Vielleicht helfen solche Ausstellungen uns zu zeigen, dass Pädophile auch nur Menschen sind. Menschen, die unter ihrer sexuellen Orientierung leiden und die man daran hindern muss, ihre sexuelle Orientierung auszuleben. Dazu müssten sich Pädophile jedoch getrauen sich zu outen, ohne zu befürchten von der Gesellschaft ausgestossen zu werden. Nur wenn ich von jemandem weiss, dass er pädophil veranlagt ist, kann ich alles dafür tun, dass er seine Neigung nicht ausleben kann und dennoch versuchen, ihn als Mensch zu respektieren. Ich kenne niemanden. Ich weiss nicht, ob ich es könnte.

*Zitat von Christoph Geiser aus dem Film «Ricco» von Mike Wildbolz
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