January 8, 2011 / erstellt am:  January 8, 2011
gesehen, aufgefallen, gefallen, Fotografie, Architektur

Der richtige Moment - eine Bildbetrachtung

Diese eine Architekturfotografie ist mir aufgefallen. Es mag Glück oder Zufall sein oder vielleicht doch berechnendes Kalkül, dass sich der Schatten des modernen Gebäudes die eine weisse Wand links von der Mitte der Fotografie geradezu perfekt diagonal unterteilt und dadurch die Aufmerksamkeit noch stärker auf die Frau im dunklen Kleid lenkt.

Nach einigen Internetrecherchen über den mir bisher unbekannten, weltberühmten Architekturfotografen Julius Shulman (1910 - 2009), gehe ich davon aus, dass diese Fotografie genau so geplant war, weil Julius Shulman angeblich mit hoher handwerklicher Fertigkeit und Präzision arbeitete. Er konstruierte seine Aufnahmen und überliess nichts dem Zufall. Er dokumentierte nicht, er inszenierte. Ich kenne das Warten auf den richtigen Moment, wenn sich der bewegliche Vordergrund mit dem statischen Hintergrund gerade richtig überschneiden, wenn der Schatten zur richtigen Uhrzeit sich am richtigen Ort befinden oder wenn eine Welle der Meeresbrandung im richtigen Moment an einem Felsen spritzend aufschlagen soll, um dann auf den Auslöser der Kamera zu drücken. Bei Architekturfotografie würde man dies kaum erwarten, dass der richtige Moment eine Rolle spielen kann. Viel eher bei Sport- oder Tierfotografie. Oft ist zu spät eben zu spät. Der richtige Moment ist verpasst und kommt entweder nie wieder oder wie bei diesem Beispiel erst vierundzwanzig Stunden später, falls die Sonne dann noch scheint. Aber Julius Shulman hat diese Fotografie bestimmt gut geplant und die Sonne scheint in Kalifornien ja sowieso beinahe jeden Tag. So ist auch das schwarze Kleid, der zufällig das Geschehen betretenden Frau, geplant und in der Bildkomposition harmonisch arrangiert, so dass die wahren Proportionen des Gebäudes spürbar werden.

Durch das optische Verschmelzen der einen horizontalen Linie des Hauses mit der vertikalen Linie dieses Pflanzenbeetes wird die Dreidimensionalität, in der Architektur in realisiertem Zustand normalerweise stattfindet, aufgehoben und mit der Zweidimensionalität der Fotografie verbunden. Dadurch übernimmt der Fotograf die streng geometrische Formensprache der modernen Architektur und verwendet sie für seine dokumentarische Fotografie. Der rechteckige Bildausschnitt wird mit Linien und Flächen unterteilt in klare, geometrische Formen.

Auf dieser Fotografie stimmt einfach alles. Kein ungewollter Störfaktor. Sogar die Autos wurden rechtwinklig geparkt. Der gekonnte Sinn für harmonische Bildkomposition ist mir aufgefallen und darum gefällt mir diese Fotografie und darum bin ich auf Julius Shulman gestossen. Es lohnt sich übrigens auch andere Fotografien von ihm anzuschauen, da er zweifellos ein Meister seines Faches war. Die Fotografie zeigt übrigens die Architektur (Killingsworth, Brady and Smith) des Duffield's Lincoln-Mercury Showrooms in Long Beach und wurde 1963 aufgenommen.

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