April 9, 2016 / erstellt am:  April 9, 2016
aufgefallen, gefallen, Fotografie, Geschichte

So tun als ob nichts gewesen wäre

Sie hat nicht lange gezögert, als Sie gefragt wurde, ob sie mitmachen würde. Sie ist noch jung, sieht aber älter aus. Der Krieg hat sie alt gemacht. Das Leben hat sie in ihren jungen Jahren bereits gezeichnet. Fotografiert zu werden hat ihr geschmeichelt, was sie jedoch nicht zugeben würde. Das Leben muss ja irgendwie weitergehen. Es ist wie ein Neubeginn. Verbunden mit der Hoffnung, dass nun alles wieder besser wird. Das Lächeln hat sie nicht verlernt.

Bei der Bombardierung Warschaus durch die deutsche Wehrmacht wurde auch ihre Wohnung zerstört. Sie hat alles verloren, auch die wenigen Fotografien, die sie bisher von sich besass. Aber was sind schon ein paar Fotografien im Vergleich zu ihrem Leben. Sie lebt und wohnt nun vorübergehend bei einer Cousine und versucht sich über Wasser zu halten. Die Deutschen wollten Warschau platt machen. Völlig ausradieren um eine neue Stadt nach ihren Vorstellungen aufbauen zu können, was ihnen zum Glück nicht gelang. Der Krieg ging im Mai 1945 mit der Kapitulation Deutschlands zu Ende. Das Leben nach dem Krieg, über ein Jahr später, ist immer noch hart. Es gibt zwar genügend Lebensmittel, die man auf den Märkten und in den Läden kaufen kann, jedoch zu beinahe unerschwinglichen Preisen. Das grösste Problem jedoch ist der kommende Winter mit seiner unerbittlichen Kälte.

Es ist bereits kalt geworden. Anfang November hat es auch schon geschneit und bedeckt die Strassen und Ruinen der Stadt mit einer weissen Decke. Dies hält ihn jedoch nicht davon ab, seine Kamera auf das Stativ zu stellen und die Leinwand mit dem gemalten Bild aufzuhängen. Draussen, da wo es Menschen gibt, die er fragen kann, ob er sie vor der Leinwand fotografieren darf. Eine Leinwand als Hintergrund, welche die zerbombte Stadt abdeckt. Allerdings war es früher üblich, die Leute vor gemalten Hintergründen zu fotografieren. Weniger um etwas abzudecken sondern um den Fokus auf die abgebildete Person zu lenken. Abgesehen davon, dass er gar kein Fotoatelier besass, brauchte er draussen auch kein zusätzliches Licht. Lampen, die er nicht hatte. Er ist ein Wanderfotograf. Wie ein Schausteller zieht er von Ort zu Ort um jeweils einige Tage oder Wochen irgendwo zu verweilen und zu fotografieren. Damit verdient er etwas Geld. Nicht genug, aber immerhin etwas.
Das Bild auf der Leinwand mit der lieblichen Landschaft und dem Schloss ist der einzige Hintergrund, der ihm noch geblieben ist. Ein Bild einer idealen Welt, so wie sie sein sollte. Es ist zwar kein Canaletto, aber erfüllt seinen Zweck. Die anderen Leinwände sind verschollen. Wahrscheinlich verbrannt. Früher konnte er seinen Kunden eine Auswahl präsentieren.
Seine Kamera basierte auf dem Prinzip der Ferrotypie. Das bromsilberhaltige Kollodium, mit dem er das schwarzlackierte Eisenblech beschichtet, hat er in einer Flasche dabei. Je nach Lichtverhältnissen dauert die Belichtung 3 bis 4 Sekunden. Vorteil der Ferrotypie ist, dass er innerhalb weniger Minuten seinen Kunden das Portrait überreichen kann.

Der Amerikaner Michael Nash war ein Fotojournalist, der für die weltumspannende Nachrichtenagentur Associated Press arbeitete. Die AP liefert schnell und unparteiisch Nachrichten und Fotografien aus jedem Winkel der Erde für alle Medienplattformen und -formate. «Es gibt nur zwei Mächte, die das Licht in alle Ecken des Globus tragen können: die Sonne am Himmel und die AP auf Erden», soll Mark Twain bereits 1906 gesagt haben. Im November 1946 hatte Michael Nash den Auftrag in Warschau Bilder der zerstörten Stadt aufzunehmen und den Wiederaufbau zu dokumentieren. Er besass eine Handkamera, eine Kodak Retina. Er schlenderte durch die Strassen und fotografierte was ihm vor die Linse kam. Ein Gemüsemarkt, zerstörte Häuser, das Polski Theater, die St. Alexander Kirche, eine Gruppe deutscher Kriegsgefangener, bewaffnet mit Schaufel und Pickel auf dem Weg zur Trümmerentsorgung. Die Szenerie mit dem Wanderfotografen muss ihm auch skurril erschienen sein. Der Kontrast zwischen zerbombten Ruinen und gespielter heiler Welt. So tun als ob nichts gewesen wäre.

Da sind also diese Frau und die beiden Fotografen. Und dann wäre da noch ich, der diese Geschichte erfunden hat. Zuerst habe ich auf dem Internet recherchiert um mehr über diese Fotografie herauszufinden. Wer waren diese Frau und diese beiden Fotografen? Wie kam es dazu, dass der eine Fotograf den anderen Fotografen beim Fotografieren fotografierte? Wie kam es dazu, dass die Frau fotografiert werden wollte? Obwohl die Fotografie auf vielen Websites und Blogs gepostet wurde, fand ich relativ wenig zusätzliche Informationen.
Es stellte sich mir aber auch die Frage ob es überhaupt eine Rolle spielt, diese Fragen beantworten zu können. Was wüsste ich mehr darüber, wenn ich erfahren würde, wer diese Menschen waren? Würde ich mehr über die Fotografie erfahren, als ich selber beim Betrachten dieser Fotografie herausfinden kann? Wahrscheinlich leben sie heute, 70 Jahre danach, gar nicht mehr.
Wenn ich Schriftsteller wäre, könnte ich einen ganzen Roman dazu schreiben, was jedoch ausführlichere Recherchen bedingen würde. Wie war das Leben 1946 in Warschau? Wie viel kann ich erfinden? Wie stark muss ich mich an die Realität halten um glaubwürdig zu bleiben?

Aber warum hat es mir gerade diese Fotografie angetan? Weil sie mich berührt, weil sie bereits von sich aus eine Geschichte erzählt. Weil sie einen Kontrast aufzeigt und weil ich gerne wüsste, was die Menschen damals gedacht und gefühlt haben.
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