October 10, 2017 / erstellt am:  October 10, 2017
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Oberflächlichkeit und Tiefgang eines Feuilletonisten

Heute schauen wir uns Filme an, besuchen Ausstellungen, lesen Bücher und Zeitungen oder surfen im Internet aber befassen uns nicht wirklich damit, sondern hetzen gleich zum nächsten Ereignis. Es könnte ja noch etwas Interessanteres geben. Diese Oberflächlichkeit stört mich. Oft agiere ich selber so. Die Möglichkeiten sich abzulenken und von einem zum anderen zu hetzen sind zahlreich. Es braucht eine gewisse Disziplin sich nur auf eine Sache zu konzentrieren. Darum konzentriere ich mich zur Zeit nur auf das Lesen der umfangreichen Biografie von Manuel Gasser.

Das Interessante dabei ist einerseits das Leben von Manuel Gasser kennenzulernen und andererseits sich über die Arbeit des Autoren dieser Biografie (David Streiff) zu wundern. Mit welcher Akribie er dieses Leben versucht zu rekonstruieren. Er liess sich nicht ablenken und arbeitete neun Jahre daran, führte etliche Gespräche mit Zeitzeugen und bediente sich zahlreicher Quellen. Da wird jeder Furz notiert und zwar in chronologisch richtiger Reihenfolge. Und dennoch habe ich als Leser nicht das Gefühl Manuel Gasser wirklich kennenzulernen. Der Autor zitiert sehr wohl auch aus Tagebucheinträgen und Briefen, wo Manuel Gasser seine persönlichen Gedanken und intimen Empfindungen beschreibt. Und dennoch bleibt er mir fremd. Ich weiss alles über seine Arbeit, was ich jedoch schnell wieder vergessen werde. Aber ich weiss nur wenig über den Menschen, wie er dachte und wie er fühlte. Es ist schon schwierig einen Menschen real richtig kennenzulernen und vielleicht deshalb unmöglich dies in einer Biografie lesend zu wollen. Und wahrscheinlich gab Manuel Gasser trotz seiner vielen schriftlichen Zeugnisse und seiner scheinbaren Offenheit weniger von sich Preis, als zu erwarten wäre. Ein Autor einer Biografie kann auch nur das schreiben, was er in den Quellen findet. Trotzdem ist es spannend mich in dieses Buch zu vertiefen. Es löst Bewunderung aber auch Neid in mir aus. Hinzu kommen ganz viele Fakten, die ich bisher nicht kannte.

«Mit 180 Fotos und Abbildungen. Manuel Gasser (1909 bis 1979) - Schulabbrecher, 1933 Mitbegründer und danach langjähriger Feuilletonchef der «Weltwoche», zwischendurch deren Auslandkorrespondent von 1946 bis 1951, wurde 1958 Nachfolger von Arnold Kübler bei der Monatszeitschrift «Du». Einer, um den nicht herum kam, wer sich in der Schweiz mit Kunst, Literatur, Film, Theater und Kulturpolitik beschäftigte. So war er im helvetischen Journalismus über Jahrzehnte eine wichtige Stimme und für viele jüngere Zeitungsmacher Lehrer und Vorbild.
Ein großer Reisender und Gastgeber, ein Homosexueller, der auf heterosexuelle junge Männer stand und Matrosen, Soldaten und Velorennfahrer liebte. Dieses Buch wirft auf der Basis seiner publizierten Texte und des weitgehend erstmals ausgewerteten Archivmaterials einen umfassenden Blick auf Gassers Leben und Lebensentwurf, seinen weitgespannten Freundeskreis und seine nie erlahmende Suche nach Glück und Schönheit. Dabei nehmen seine Tagebücher und Briefe eine besonders wichtige Rolle ein.» (Klappentext)

In den Geschichtswissenschaften gäbe es die schöne Unterscheidung zwischen den «Trüffelsuchern», welche sich durch fleissige Sichtung aller verfügbaren Informationen ein Bild machen, und den «Fallschirmspringern», die sich primär für die grossräumigen Zusammenhänge interessieren, schreibt David Streiff in seiner Einleitung. Er habe sich für den Weg des Trüffelsuchers entschieden. Allerdings frage ich mich schon, ob das wirklich alles Trüffel sind, die er da gefunden hatte. Die Bemühung um Vollständigkeit verkommt leider häufig zu banaler Aneinanderreihung von Fakten und Auflistung von mehr oder weniger bekannter Namen, die wenig zum Erkenntnisgewinn beitragen. Aber ich will nicht nur lästern. Noch nie habe ich eine solch detaillierte Biografie gelesen und weiss die Fleissarbeit zu würdigen. Der vertiefte Einblick in ein reiches Leben will eben nicht nur an der Oberfläche kratzen.

Warum interessiere ich mich überhaupt für die Biografie eines heute beinahe schon vergessenen Feuilletonisten? Wahrscheinlich weil ich selber gerne ein Feuilletonist wäre, allerdings nur, wenn ich wie Manuel Gasser selber bestimmen könnte, worüber ich schreiben möchte. Was ist meine Website anderes als Feuilleton mit dem Unterschied, dass ich damit kein Geld verdiene, dafür aber absolute Freiheit geniesse. Auch die Freiheit fragmentarisch zu bleiben. Sobald es um Geld geht, verliert man seine Unabhängigkeit.

Des weiteren wollte ich wissen mit welchen Schwierigkeiten ein offen lebender Schwuler zu jener Zeit in der Schweiz zu kämpfen hatte.

«Die Leistung von Streiffs grossem Gasser-Buch besteht nicht allein in der Nacherzählung eines Journalistenlebens. Sondern auch darin, dass es die Biografie eines Schwulen erzählt, der seine Homosexualität mit mehr als nur bemerkenswerter Offenheit leben konnte. Obwohl die Zeichen dafür schlecht standen: Als 18-Jähriger sah sich Gasser mit einem Arzt konfrontiert, der ihn von seiner Homosexualität therapieren wollte. Auf Wunsch der Eltern. Wenige Jahre später wurde Gasser am Lehrerseminar in Bern rausgeworfen. Mutmasslich wegen «Sittlichkeitsvergehen an höheren Schulen».» (Andreas Tobler im Tages-Anzeiger vom 14.01.2017)

Von da an war er vorsichtig wem er was erzählte. Seine Schwärmereien für gleichaltrige Knaben und später Matrosen und Velorennfahrer vertraute er nur seinen Tagebüchern und einigen guten Freunden an. Über sein Coming-Out erfahre ich leider nur sehr wenig. Es könnte fast der Eindruck entstehen, dass er seine sexuelle Orientierung immer als eine Selbstverständlichkeit verstand, was ich kaum glauben kann. Auch ihm musste bekannt gewesen sein, dass homosexuelle Handlungen in der Schweiz illegal waren. Erst 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, wurde Homosexualität mit der Einführung des ersten Schweizerischen Strafgesetzbuches entkriminalisiert. Für seine Homosexualität kam Manuel Gasser nie direkt mit dem Gesetz in Konflikt. Indirekt jedoch schon, in dem seine Gegner versuchten ihn als Schwulen zu diffamieren.

Der Schönheitssucher Gasser liess sich nicht beirren. Auch wenn er als Schwuler diffamiert wurde, unterschwellig im Brentano-Prozess, offen zum Beispiel von Niklaus Meienberg, der 1959 die «Du»-Redaktion in einem Brief an Bundesrat Etter als «homosexuell durchseucht» denunzierte. Bei aller offenen Lebenshaltung ist Manuel Gasser am Ende doch ein Aussenseiter geblieben.» (Andreas Kläui am 28.01.2017 auf der Website von SRF)

Über Privates habe er nicht gerne gesprochen. Wohl wissend warum. Gasser sei ein «im Grunde scheuer und auf Distanz bedachter Mensch», der aber gern Gesellschaft habe, schreibt Klara Obermüller in einer Reportage für die Zeitschrift «Femina». Er kenne ungeheuer viele Leute, habe aber wenige Freunde; selten habe sie gehört, dass er jemanden duze.

«Als Ästhet und «Paradiessucher» (Hugo Loetscher) drapiert Gasser seine Formulierungen mit der Gefühlsbekundung «schön». Und was ist da nicht alles schön und beau, vor allem die Burschen. Nach der zigsten Schönheitsbekundung wird es unerquicklich. Er selbst muss es gespürt haben: «Hat ein Kunsthistoriker das Recht, zu sagen: das ist schön?» – Wir kennen die Antwort von Heinz Keller, an den diese Frage gerichtet war, nicht, doch nach der Lektüre von Streiffs Biografie wird man sie mit einem entschiedenen Nein beantworten. Wir wünschten uns, der «Weltwoche»- und «Du»-Redaktor hätte im Darkroom seiner Begierden nach verfeinerten sprachlichen Ausdrucksmitteln gegraben und wäre den politischen Realitäten aufgeschlossener begegnet. Die «Welt vor Augen»? – Streiffs Biografie macht deutlich, dass Gasser diese Welt durch eine rosarote Brille sah.» (Gabriel Katzenstein in der NZZ vom 09.03.2017)

Die Auseinandersetzung mit Biografien ist immer ein Blick in die Vergangenheit. Und es besteht die Gefahr in schwelgerischer Nostalgie zu versinken. Unweigerlich stellen sich mir die Fragen: Was hat das alles mit heute zu tun? Was hat das alles mit mir zu tun? Die Antworten darauf sind jedoch nicht Ziel und Aufgabe einer Biografie. Die Antworten muss ich mir schon selber geben.

Und dann noch dies:

Unglaublich. Alles ist verfügbar. Kostenlos. Im Internet. Im Rahmen des ETH-Projekts retro.seals.ch wurden neben anderen Zeitschriften auch alle Du-Ausgaben seit seiner Gründung 1941 eingescannt und über das Internet zugänglich gemacht. Die Durchführung erfolgt durch das Konsortium der Schweizer Hochschulbibliotheken sowie weiterer Institutionen aus dem Bibliotheksbereich, darunter auch die Schweizerische Nationalbibliothek.
Also «blättere» ich in alten Du-Magazinen und lese dazu die Entstehungsgeschichten, Anekdoten und Hintergrundberichte in der Biografie über Manuel Gasser. Dass dies Stunden um Stunden beanspruchte und dass ich mich immer wieder verzettelte und ablenken liess, störte mich nicht.

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