March 12, 2015 / erstellt am:  March 12, 2015
aufgefallen, gefallen, Literatur, Buch, Rezension, Literaturkritik

Gegen das Verschwinden schreiben

Ein neuer Stern am deutschen Literaturhimmel, der viele Preise gewann und über den bereits viel geschrieben wurde. Nur ich hatte bisher von Saša Stanišić noch nichts gehört. Bis mir sein erster Roman «Wie der Soldat das Grammofon repariert» zufällig in die Hände fiel. Zufällig meint: das Buch wurde mir geschenkt und gefiel mir derart gut, dass ich sogleich seinen zweiten Roman «Vor dem Fest» in Angriff nahm. Zuvor lass ich aber noch einige Lesermeinungen oder Amateur-Rezensionen bei Amazon, die meist fern von jeder objektiven Beschreibung und aus rein subjektiver Sicht geschrieben sind. Sie reichen von uneingeschränktem Lob bis zum polemischen Totalverriss:

Möchtegernweltliteratur
Ich höre nicht mehr auf die ganzen Kritiker im Literaturbetrieb, denn die haben offensichtlich keine Ahnung. Wenn jemand ernsthaft schreibt und behauptet, das sei Weltliteratur, dann kann ich mich nur wundern. Langeweile pur. Und sprachlich ist das überhaupt nicht mein Fall, es ist alles konstruiert und künstlich. Für mich ein nahezu unlesbarer Roman.

Ungelenk und zerfahren
Das soll Weltliteratur sein? Das Buch rumpelt sprachlich übers Feld. Keine Eleganz, keine klare Linie und keine Geschichte. Eine Sammlung von Fragmenten - eher hingeworfen als komponiert. Man wird den Eindruck nicht los, das der Autor am eigenen Anspruch gescheitert ist. Er quält sich und den Leser in dem Versuch möglichst schlau und assoziativ daherzuschreiben. Das Ergebnis sind blasse Figuren und eine ärgerliche Klugscheißer-Schreibe. Das Ganze wäre nicht so schlimm wenn der Roman nicht zum literarischen Ereignis hochgejazzt würde.

Wunderbare Entdeckung
«Kaffeemaschine für Kaffeemaschine erwacht das Dorf.» Mir ist ein Buch von Sasa Stanisic in die Hände gefallen. «Vor dem Fest». Auch wenn das jetzt etwas schwülstig klingt: Grandios, fand ich das. Auch wenn es «nur» von einem Dorf in der Uckermark (wo is die nochmal? Nach «Vor dem Fest» hat man fast das Gefühl, dort gewesen zu sein) handelt. Auch wenn das irgendwie was von einem Heimatroman hat. Hat es doch eigentlich gar nicht und irgendwie doch. Absolut lesenswert - allein der Sprache wegen - von der ersten Seite bis zur letzten! So viele wunderbar feine, poetische, skurrile Geschichten, so viele verschrobene und absolut normale Menschen, so viel Atmosphäre und Vergangenheit und Gegenwart, Klugheit und alles beisammen. Ich bin begeistert!

Vor dem Fest
In dem Roman geht es um die Nacht vor dem Annenfest in dem fiktiven Ort Fürstenfelde in der Uckermark. Das Buch hat keine durchgehende Handlung, was mich am Anfang etwas irritiert hat. Der Autor reiht Momentaufnahmen und Lebensgeschichten der Bewohner aneinander, die in dieser Nacht noch unterwegs sind. Darunter ist auch eine Füchsin, die für ihre Jungen Eier stehlen will. Das ist meine Lieblingsfigur in der Geschichte. Sasa Stanisic zeichnet seine Charaktere mit Witz und Tragik, ich habe das Buch kaum aus der Hand legen können.

Auch wenn es sich eher um Lesermeinungen und keine richtigen Rezensionen handelt, sind solche kontroversen Lesermeinungen immer noch besser als gar keine Rezensionen. Die schlechteste Rezension ist die ungeschriebene Rezension, das heisst, wenn das Buch ignoriert würde. Dementsprechend sind viele Rezensionen egal ob positiv oder negativ, bereits positiv zu werten. Ok, nur schlechte Rezensionen wäre die zweit schlechteste Variante, aber dies ist bei «Vor dem Fest» ja nicht der Fall. Angeblich sollen Internethändler wie Amazon das Schreiben von Kundenbewertungen sogar fördern, indem sie Vielschreibern Gratisexemplare zur Rezension anbieten, weil sie solche Meinungsäusserungen als umsatzfördernd einschätzen. Das tuen Verlage auch um ihre Produkte besser vermarkten zu können und solange kein Missbrauch betrieben wird, ist dagegen nichts einzuwenden.

Seltsamerweise lese ich oft zuerst die schlecht bewertenden Besprechungen. Sie scheinen mir «wahrer» zu sein als allzu euphorische Lobhudeleien, was natürlich überhaupt nicht stimmen muss. Manchmal erkennt man am Schreibstil einer Lesermeinung, ob sie etwas taugt oder nicht. Als Leser dieser Buchbesprechungen kennt man deren Verfasser ja nicht. Man weiss nicht, ob es sich um einen Literaturkenner oder Kulturbanausen handelt (oder gar den Schriftsteller selbst). Wobei auch ein Vielleser nicht unbedingt kompetenter sein muss, als ein Gelegenheitsleser. Hinzu kommt: Jeder Leser und jede Leserin hat eine eigene Biographie, eigene Wertmaßstäbe, eigene Erfahrungen, einen eigenen Geschmack und eigene Erwartungen. Gleich alles als wildes Rezensieren ohne Bildungshintergrund zu verurteilen, wäre arrogant und falsch. Und gerade deshalb ist das Lesen dieser Amateur-Rezensionen spannend, weil sie so vielfältig sind und weil es mich anregt, mir meine eigene Meinung zu bilden.

Abgesehen von diesen Amateur-Rezensionen, wie ich sie nenne, lese ich natürlich auch ausführlichere Buchbesprechungen im Feuilleton von ausgewiesenen Literaturkritikern mit Germanistikstudium und viel Leseerfahrung, was jeweils etwas mehr Zeit beansprucht. Auch hier gibt es grosse Qualitätsunterschiede unabhängig vom Resultat ihrer Beurteilung. Und hier noch einige schöne Sätze zum Thema Literaturkritik, denen ich während meiner kurzen Recherche begegnet bin:

- «Kurze Besprechungen verlangen von Rezensenten ein Maß an Verdichtung, das dem Gegenstand gegenüber nur selten angemessen und wenn, dann nur unter hohem zeitlichen Aufwand geleistet werden kann.» (Wikipedia)

- «Es geht hier um Produkte der Kunst, nicht um objektiv nachvollziehbare Beurteilungen der Stiftung Warentest. Ein gut geschriebener Verriss ist selbst nicht mehr als gehobene Unterhaltungsliteratur; eine Lobeshymne ist ein Verkaufsprospekt. Und die Qualität literarischer Produkte ist ganz bestimmt nicht objektiv quantifizierbar.» (Zeit online)

- «Gute Rezensionen sind eine eigene Kunstform mit einem hohen Risiko für die Reputation des Rezensenten.» (Zeit online)

- «Literaturkritiker sind ängstliche Leute, ihr Gewerbe steht immer am Abgrund, für sie ist es den ganzen Tag lang superkurz vor zwölf. Der Platz, den sie in einer Zeitung füllen dürfen, wird: geringer. Die Beachtung, die sie erfahren, wird: geringer. Ihre Bedeutung und die der gesamten Literatur: schrumpft. Literaturkritiker kommen schon als Verschwinder auf die Welt. Wer sich beeilt, kann sie noch sehen, wer langsam schaut, der blickt ins Leere.» (faz)

Da bereits soviel über Saša Stanišić und «Vor dem Fest»  geschrieben wurde, verzichte ich hier auf eine eigene, ausführliche Rezension mit Zusammenfassung und Analyse (was ich ursprünglich beabsichtigt hatte). Nur soviel: Unbedingt lesen und sich seine eigene Meinung bilden.
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