December 20, 2019 / erstellt am:  December 20, 2019
aufgefallen, gefallen, Buch, Roman, Literatur

Ein Leseprojekt: Zwischen Komik und Verzweiflung

«Eichhörnchen, Birken und freundliche Nächte sagen mir zu. Ich bestaune jeden, der sich knitterfrei kleidet. Schnee lässt mich kalt. Ich bin Schweizer. Strammes vergelte ich mit Hühnerhaut. Einst wollte ich Jäger werden, nun bin ich Lehrer, was sonst. Schön ist ein lautloses Frühstück. Ich rauche, schreibe stockend, wohne ländlich. Dem Weltgeschehen schenk ich Interesse und Wut, aber ich glaube, es pfeift drauf. Gern wäre ich länger, runder und eine Spur beschwingter. Ich frage mich, was man sonst noch über mich wissen wollen könnte.»

Wie schreibt ein Schriftsteller, der sich selber so beschreibt? Meine Neugier war geweckt. Und mein Ehrgeiz ebenfalls. Ich nahm mir vor alle Bücher dieses Schriftstellers zu lesen. Das heisst erst als ich seinen ersten Roman «Zündels Abgang» gelesen hatte und begeistert war. Ich wollte mehr davon und machte mich auf den Weg zur Bibliothek. Noch nie hatte ich alle Romane eines Schriftstellers gelesen. Ich startete das Projekt ohne genau zu wissen, was ich mir davon versprach. Sieben Romane sind ein überschaubares Werk. Es werden keine Weiteren folgen. Da Markus Werner 2016 mit 71 Jahren leider verstarb. Aber seine Romane werden bleiben und hoffentlich nicht in Vergessenheit geraten.

Oft schreibt er in kurzen Sätzen oder einzelnen Worten nur in Andeutungen und dennoch versteht man, was gemeint ist. Diese indirekte Art zwingt den Leser zwischen den Zeilen zu lesen. Für mich macht dies den Reiz seiner Sprache aus. Ich freue mich, wenn ich verstehe, was gemeint ist, auch wenn es nicht expliziert ausformuliert ist. So werde ich zum Komplizen seiner Gedankengänge.

Um den Schreibstil als lakonisch zu bezeichnen, braucht er doch zu viele Wörter. Und dennoch merkt man, dass jedes Wort gut überlegt ist. So gelingen ihm auch neue, treffende Wortschöpfungen, wie zum Beispiel «Schicksalspenetranz», was die Anhäufung von Zufällen beschreibt und als aufdringlich oder eben penetrant empfunden wird. Bei der Google-Suche ergibt dieses Wort genau einen Treffer: aus dem Roman «Bis bald» von Markus Werner.

Zündels Abgang* / 1984
«Zündel, der Held, Mitte dreissig, Lehrer, verheiratet, spürt in sich wie eine schleichende Infektion das Existenzzernagende des Lebensalltags. Gegen Katastrophen könnte man sich aufbäumen, was aber hilft noch gegen die kleinen und umso dreisteren Alltagsattacken, gegen die abgeklärte Robustheit des Normalen. Als die grossen Ferien da sind und ihn nichts mehr hält, entfernt sich Zündel. Der Versuch einer Reise nach Griechenland scheitert, ein erneuter Anlauf bringt ihn bis Genua. Was ihm dort zustösst, ist nur noch für den Leser zum Lachen. Zündel will nicht mehr und geht ab.»

Froschnacht / 1985
«Der Frosch kommt einmal monatlich, bleibt für drei Tage und geht. Der, dem er im Hals sitzt, heißt Franz Thalmann: einst Pfarrer und verheiratet, nun aber und seit Jahren schon Lebensberater und geschieden. Zum Glück, denn beides ist ihm recht. Wenn da nicht eben jener Frosch wäre, und der heißt Thalmann Klemens und war sein Vater. Vor einem halben Jahr haben sie ihn begraben, was sie aber nicht begraben konnten, das ist das Ungeklärte, Unerlöste, das Unbesprochene zwischen Sohn und Vater. Da hilft dem Sohn nur, ihn zum Reden zu bringen, ihn, den Vater-Frosch, der sich nun von der Seele redet, was er dachte von der Welt. Und weil er sich verteidigen zu müssen glaubt, tut Franz, der Sohn, ein gleiches. In schöner Wechselrede sinnieren die beiden vor sich hin, mit Trauer und Wut, mit Scharfsinn und einem überrumpelnden Witz, der die Anfeindungen des Lebens entwaffnet.»

Die kalte Schulter / 1989
«Es ist eine Geschichte von Liebe und Tod. Von späten, aber fetten Sommertagen und von der Ahnungslosigkeit des Malers Moritz Wank, der nicht mehr malt und nur noch zögernd lebt, weil alles sich entzieht. Die eigene Bangigkeit ist ihm so unverständlich wie die Welt, und seine Zehennägel sind ihm fremd. Nur Judith, die Gefährtin, gibt immer wieder Halt, und im Zusammensein mit ihr entsteht – Momente lang – Gewissheit, entsteht Beruhigung, ja Zukunftslust: Auf diese Liebe ist Verlass. Aber worauf verlässt sich die Liebe? Markus Werner berichtet vom Lachhaften unserer Existenz in einer Weise, dass wir tatsächlich lachen müssen. Und mit genauem Gefühl, behutsam und klug, erzählt er auch dort, wo uns das Lachen vergeht.»

Bis bald* / 1992
«Am hellen Himmel des Denkmalpflegers Lorenz Hatt geht plötzlich ein Unstern auf. Der zwingt ihn, als Gefesselter zu leben. Hatt sitzt und hofft und wartet auf die Rettung. Und säße nicht an manchen Tagen ein stiller Gast bei ihm, so wäre seine Zeit noch trüber. Ihm nämlich erstattet Hatt Bericht und macht dabei aus seinem Herzen keine Mördergrube. Wer zuhört, spürt, dass hier von uns die Rede ist, von unserem Warten, unserem Hinken, von Weltsucht, Lebensdrang und Atemnot. So begleiten wir ihn bis zu einem Ende, das wir nicht ahnen wollten.»

Festland / 1996
«Sie trennten Welten und doch nur fünfzehn Tramminuten. Sie leben in Zürich, doch Vater und Tochter haben keinen Kontakt. Erst als sich beide an einem Wendepunkt befinden, gehen sie aufeinander zu: der »Bürobiedermann« Kaspar Steinbach und die nichtehelich geborene Julia. Was sie mit ihrem fremden Vater erlebt und von ihm zu hören bekommt - unter anderem die Geschichte ihrer Entstehung -, ist für die junge Frau so abenteuerlich und verwirrend, dass sie es aufschreiben muss.»

Der ägyptische Heinrich* / 1999
«Die Geschichte von Heinrich Bluntschli, dem »ägyptischen Heinrich«, ist ein wenig auch die Geschichte seines Ururenkels. Denn er hat mit Umsicht und Geduld nach Spuren seiner Vorfahren gesucht und ist dabei auf allerhand Menschliches, das heißt Merkwürdiges und Abgründiges, Ägyptisches und Schweizerisches gestoßen. Ein amüsanter und spannender Bericht, denn Markus Werner kann wie kaum ein anderer Witz und Wahrheit auf ihren gemeinsamen Nenner bringen.»

Am Hang* / 2004
«Der junge Scheidungsanwalt Clarin freut sich auf ein ungestörtes Pfingstwochenende in seinem Tessiner Ferienhaus, wo er einen Aufsatz für eine Fachzeitschrift schreiben möchte. Am ersten Abend lernt er auf der Terrasse des Hotels Bellavista einen älteren Mann kennen, einen scheinbar Verwirrten, einen Verrückten vielleicht. Sie reden und debattieren bis tief in die Nacht, und allmählich erzählen sie sich auch ihre Geschichten und Liebesgeschichten. Was als stockendes Gespräch zwischen Zufallsbekannten begonnen hat, entwickelt eine fiebrige, beklemmende Dynamik, der sich weder Clarin noch der Leser entziehen kann. Es sind zweifelhafte Umstände, unter denen Loos seine geliebte, fast vergötterte Frau verloren hat, und dieser Verlust scheint ihm die Welt schwer und verhasst zu machen. Clarin hingegen lebt leicht und gern. – Ferner könnten zwei Menschen einander nicht sein. Wie nah sie sich sind, stellt sich erst spät heraus.»

Nicht alle haben mir gleich gut* gefallen.

Seine Protagonisten und ihre Geschichten haben oft etwas Kauziges. Ein treffendes Wort, wenn auch schwierig zu definieren, was mit kauzig genau gemeint sein könnte. Mit wunderlich, schrullig oder sonderbar verglichen, steckt in kauzig das Vogelhafte. Der Kauz lebt zurückgezogen und wirkt bei Tage unbeholfen.

Seine Figuren sind oft schlecht gelaunte, vom Leben enttäuschte oder gar verzweifelte Aussenseiter. Pessimisten, die nur das Schlechte sehen. Und dennoch schafft er es diesem Pessimismus etwas Humorvolles abzugewinnen. Es ist nicht so, dass ich mich mit diesen Protagonisten identifizieren könnte. Eher im Gegenteil: Als Leser erbaue ich mich an den Schicksalen dieser Figuren und denke: Im Vergleich geht es mir ja richtig gut. Obwohl schlecht geht es ihnen eigentlich nicht. Sie denken nur schlecht darüber.

«Werner führt seine Figuren konsequent in existenzielle Grenzbereiche, an die Ränder der Gesellschaft und in den Strudel zermürbender Selbstzweifel. Die Hinfälligkeit der Existenz und der Verlust dies- wie jenseitiger Verlässlichkeiten haben die Seinsgewissheit von Werners Figuren erschüttert.» (Roman Bucheli, 04.07.2016, Neue Zürcher Zeitung)

«Werners Figuren erkennen die allgegenwärtige Zumutung. Sie erkennen sie als übermächtigen Feind, dem sie wenig anderes entgegenzusetzen haben als Scharfsinn, Verachtung, Ekel und entlarvenden Humor.» (Frédéric Zwicker, 05.07.2016, Saiten)

Alle Bücher von Markus Werner gelesen zu haben, macht mich eigentlich zu einem Experten dieses Schriftstellers. Literarisch bin ich jedoch zu wenig bewandert um Vergleiche, Parallelen oder Abweichungen feststellen zu können. Oder ich müsste noch viel mehr Zeit investieren. Auch Andeutungen zu Werken anderer Schriftsteller bleiben mir fremd. Zum Beispiel wenn der Titel «Der ägyptische Heinrich» eine offensichtliche Verbindung zum «grünen Heinrich» von Gottfried Keller aufweist, kann ich daraus keine klugen Schlüsse ziehen, da ich den «grünen Heinrich» nie gelesen habe. Es bleibt mir einzig und allein die Freude am Lesen. Die Freude am subtilen Humor und der präzisen Sprache, dieses aussergewöhnlichen Schriftstellers, der mir so lange unbekannt war.


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