July 25, 2011 / erstellt am:  September 12, 2012
aufgefallen, gefallen, Fotografie, Manipulation, Buch

Bilder im Kopf

Es ist leicht unscharf eine Strasse mit Trottoir zu sehen. Der Fotograf steht selber auf dem Trottoir und schaut auf die mit vielen Flickstellen versehene und kaum belebte Strasse. Nur ein einsamer Fahrradfahrer bewegt sich vom Fotografen weg. Entlang dem ansonsten menschenleeren Trottoir verläuft eine Mauer mit einer Einfahrt zu einem Haus, welches sich hinter Bäumen versteckt. Die Mauer ist ziemlich hoch und es kann nicht unterschieden werden, was noch Mauer oder bereits Gebäude dahinter ist. Im Hintergrund führt die Strasse in eine Querstrasse, die ebenfalls mit Gebäuden und Bäumen gesäumt ist. Zwischen den Bäumen hindurch blickt man auf einen grauen, wolkenbehangenen Himmel.

Das Entscheidende bei dieser Fotografie ist, dass sie einem irgendwie bekannt vor kommt. Man hat diese Fotografie auch schon gesehen, allerdings scheint etwas anders zu sein. Irgend etwas fehlt. Die Fotografie erinnert einen an eine Fotografie von Yves Klein. Gleiche Strasse, gleiche Mauer, aber mit einem Mann der mit ausgestreckten Armen und durchgestrecktem Körper über diese Mauer ins Leere springt. Es handelt sich um eine Fotomontage von Harry Shunk von einer Performance von Yves Klein in der Rue Gentil-Bernard, Fortenay-aux-Roses in Paris im Oktober 1960 mit dem Titel «Le Saut dans le Vide».

Diese Fotografie steht als Beispiel für eine ganze Serie von Fotografien mit dem Titel «Bye Bye», die der deutsche Künstler, Kommunikationsdesigner und «Werbepapst» (ehemaliger Creative Director der Werbeagentur GGK) Michael Schirner immer nach derselben Vorgehensweise aber mit unterschiedlichen Wirkungen produzierte. Er nahm bestehende Fotografien, von denen er glaubte, dass die sich in unser kollektives Bildgedächtnis eingeprägt haben und dadurch zu Ikonen der Fotografiegeschichte wurden und hat sie manipuliert in dem er wesentliche Figuren wegretouchierte.

Dieses Prinzip funktioniert nur, wenn die Originalfotografien jemals gesehen wurden und wir uns daran erinnern, was nicht immer der Fall ist. Fehlt diese Wiedererkennung, können die Manipulationen nicht erkannt werden. Dann werden einfach Fotografien gesehen und wahrgenommen, was darauf abgebildet ist. Da solche Beispiele aber meistens im Kontext, das heisst mit anderen Beispielen der Serie gezeigt werden, begreifen wir das sich wiederholende Prinzip und suchen automatisch nach etwas Fehlendem. Bei einigen Beispielen entsteht durch die Retusche auch eine Leerstelle, die darauf hinweist, dass etwas fehlt oder fehlen könnte.

Der Betrachter dieses Beispiels versucht zu realisieren, was er sieht und vergleicht dies mit anderen Bildern. Dabei entdeckt er die Ähnlichkeit mit einem Bild, das er schon gesehen hat und bemerkt den Unterschied, was vom Bildhersteller beabsichtigt ist. Durch diese geistige Leistung kann man den Betrachtenden als Mitautoren bezeichnen, was er jedoch auch bei jeder anderen Bildbetrachtung wäre. Demzufolge wird man bei diesem Beispiel nicht mehr oder weniger zum Mitautoren wie bei jeder anderen Bildbetrachtung.

Die unterschiedlichen Wirkungen, die diese manipulierten Bilder auslösen, machen ihren Reiz aus. Ansonsten erschöpft sich das Ganze relativ schnell, weil die Vorgehensweise immer die selbe ist. Das Beispiel von Yves Klein zählt eher zu den Spielereien. Das Wesentliche der Originalfotografie ist wegretuschiert. Dadurch verliert die Fotografie ihren Witz. Übrig bleibt eine Fotografie einer Strasse, wie in der Bildbeschreibung beschrieben. Es entsteht keine neue Bildaussage.

Zwischen Appropriation Art, Paraphrase, Hommage und Plagiat ist ein dünner Grat, auf dem sich Michael Schirner befindet. Denn seine Idee, das Wesentliche auf bestehenden Fotografien wegzuretuschieren, ist nicht neu. Bereits der amerikanische Künstler Paul Pfeiffer entfernte im Jahr 2000 in seiner Fotoserie «Landscape» dank Photoshop Marilyn Monroe aus den berühmten Strandfotos von George Barris mit dem Unterschied, dass sich kaum jemand an das Originalbild erinnern kann. Es mag Zufall sein, dass auch der slowakische Künstler Pavel Maria Smejkal 2009 in seiner Bildserie «Fatescapes» zum Teil dieselben ikonischen Bilder auf gleiche Art und Weise wie Michael Schirner manipulierte. Sie schöpfen beide aus dem gleichen Bildfundus, wenn sie auf der Suche nach Bildern sind, die sich ins kollektive Gedächtnis eingeprägt haben. Michael Schirner tat dies noch etwas intensiver und kam auf 40 Beispiele im Vergleich zu Pavel Maria Smejkal mit nur 10 Beispielen. Dennoch rückt dies den «Werbepapst» einmal mehr in den Dunstkreis eines Plagiators, wie bereits zuvor in einem anderen Zusammenhang.

Das Originalbild ist abwesend. Es wird eine Fotografie gesehen und an das Originalbild erinnert. Mit der eigenen Vorstellungskraft wird die Leerstelle ergänzt. Es geht also um die Bilder im Kopf, ausgelöst durch eine Bildmanipulation. Das Hauptmotiv ist abwesend. Durch das Abwesende auf diesen Fotografien, werden wir auf diese Bilder aufmerksam gemacht, obschon wir denken, sie bereits zu kennen. Wir schauen wieder genauer hin, was wir sonst übersehen würden, da wir diese Bilder bereits als bekannt taxieren. Durch das erneute genaue Hinschauen, will uns Michael Schirner darauf hinweisen, uns Gedanken zur Originalfotografie und ihrer Entstehung zu machen. Wir sehen vielleicht die Fotografie, haben aber vergessen, worum es eigentlich ging. Durch ihre millionenfache Verbreitung, durch ihre Bekanntheit haben sie an Intensität und Magie verloren.

Ziel sei es, das «Unsichtbare im Sichtbaren» zu zeigen. Damit meint er die unbeachteten Details und Hintergründe auf diesen Fotografien, die erst durch die Abwesenheit des Hauptmotivs beachtet werden. Was allerdings so beachtenswert daran sein soll, sagt er uns nicht.

«Meine Kunst ist nicht mein Werk, sondern ganz allein Deins, Du bist der Schöpfer Deiner Bilder in Deinem Kopf. Mich gibt es gar nicht» sagt Michael Schirner und soll als Künstler also abwesend sein. Dafür steht sein Name jedoch ziemlich prominent auf allem, was mit seiner Medien-Kunst-Aktion, wie er es nennt, zu tun hat. Mit grossem Brimborium hat er die Fotografien in einer grossen Ausstellung gezeigt, grosse Plakate drucken lassen und in mehreren grossen Städten ausgehängt. Und natürlich gibt es auch eine eigene Website und einen umfangreichen Ausstellungskatalog. Wäre er tatsächlich konsequent mit seiner Abwesenheit als Künstler, würde sein Name nicht erscheinen oder vielleicht nur ein Pseudonym.
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