July 29, 2016 / erstellt am:  July 28, 2016
aufgefallen, Buch, Literatur, Skandal

Requiem auf die Menschheit - zum Schreien komisch

Es kommt selten vor, dass ich beim Lesen eines Buches in lautes Lachen ausbreche, was mir jedoch bei folgender Szene im Buch «Elementarteilchen» von Michel Houellebecq passierte:

Die Leiterin des Creative-Writing-Kurses hatte langes schwarzes Haar, einen grossen Mund mit karminroten Lippen (einen Mund von der Art, die man gemeinhin ein «Lutschmäulchen» nennt); sie trug eine weite, schwarze Hemdbluse und eine schwarze Keilhose. Hübsche Frau, sehr apart. Trotzdem eine alte Schlampe, dachte Bruno, als er sich irgendwo in den Kreis hockte, den die Teilnehmer mehr oder weniger bildeten. Rechts von ihm sass eine dicke, grauhaarige Frau mit starken Brillengläsern und furchtbar fahlem Teint, die laut schnaufte. Sie stank nach Wein; dabei war es erst halb elf.
«Um unsere gemeinsame Anwesenheit zu begrüssen», sagte die Leiterin zum Auftakt, «um die Erde und die fünf Himmelsrichtungen zu begrüssen, beginnen wir den Kurs mit einer Bewegung des Hatha-Yoga, die den Namen Sonnengruss trägt.»
Darauf folgte die Beschreibung einer unverständlichen Stellung; die Rotweinelse neben ihm gab den ersten Rülpser von sich. «Du bist abgespannt, Jacqueline …», kommentierte die Yogini, «mach die Übung nicht, wenn dir nicht danach ist. Leg dich lang hin, die anderen tun es gleich auch.»

Es ist mir bewusst, dass ich hiermit meinen Hang zu primitivem Humor offenbare. Aber die Szene ist wirklich zum Schreien komisch. Welcher Creative-Writing-Kurs beginnt schon mit einer Yogaübung? Ich kann mir gut vorstellen, mit welchem Ernst und Eifer die Teilnehmenden tun, was die Leiterin sagt. Nur Bruno scheint das Ganze nicht geheuer, was sich durch den Hinweis auf die fünf Himmelsrichtungen äussert. In all diese Ernsthaftigkeit ertönt ein Rülpser einer betrunkenen Teilnehmerin, was das Ganze ins völlig Absurde abdriften lässt.
Ich gebe zu, dass ich auch lachen muss, wenn zum Beispiel jemand im Lift, umgeben von fremden Personen, laut furzen muss. Oder andere peinliche Situationen, die mir oder anderen widerfahren. Aber ich denke, lachen ist die beste Art mit peinlichen Situationen umzugehen, statt sich zu schämen oder gar fremdzuschämen.

Ansonsten gibt es nicht sehr viel zu lachen in diesem Buch. Oder das Lachen bleibt einem im Halse stecken, so dass man lieber kotzen würde. Und ich bin mir unschlüssig, ob ich es gut oder schlecht finden soll. Aber vielleicht braucht es gar kein weiteres Urteil. Denn es wurde schon so viel über dieses Buch und den Autoren Michel Houellebecq geschrieben. Er wurde zum Reaktionär, zum Faschisten, zum Frauenverachter und zum Buddhisten erklärt. Von Genie bis Scharlatan. Sein Buch wurde zum Skandalbuch hochstilisiert, was vor allem die Verkaufszahlen in die Höhe trieb.

«Elementarteilchen» wurde hoch gelobt und böse zerrissen. Es ist ein Buch mit viel Polarisierungspotential. Houellebecq versteht es zu provozieren. Das fängt schon bei der Sprache an, die nicht zimperlich ist und zwischen absolutistisch anmutenden Thesen, naturwissenschaftlichem Fachwissen und billigem Sexroman hin und her schwankt. Das alles kann dem Leser auch zuviel werden: zuviel Absolutismus in den Ideen, zuviel (pseudo-)intellektuelles Gehabe und zuviel Gerede über Körperflüssigkeiten, Körperteile und Sex. Insbesondere das Sexgeplapper wirkt zuweilen wie eine plumpe Art der Provokation des Autors. Sex sells, heißt es. Vielleicht hat Houellebecq sich das auch gedacht. (1 von 155 Rezensionen auf Amazon)

Es erzählt die Geschichte vom glücklosen Leben der Halbbrüder Bruno Clément und Michel Djerzinski, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Bruno, der Lehrer, entwickelt eine lebenslange Sexbesessenheit, hat aber beim anderen Geschlecht kaum Glück. Der depressiv wirkende Michel, der ein bekannter Forscher auf dem Gebiet der Molekularbiologie wird, zeigt dagegen wenig Interesse an Sex und Frauen. Kurz gefasst: Bruno ist Sexualität ohne Fortpflanzung, Michel ist Fortpflanzung ohne Sexualität. Das Einzige, was die beiden verbindet, ist das Schicksal, die einsamen und ungeliebten Söhne einer egoistischen Mutter zu sein.

«An Obszönität haben Film und bildende Kunst die Literatur längst überflügelt. Anstößig ist der Roman vor allem wegen der Rücksichtslosigkeit, mit der hier die antimodernen Einwände gegen das moderne Leben mit größter Lautstärke, mit der Wucht eines Schlags in die Magengrube wiederholt werden.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.1999)

In der sexuellen Befreiung sieht er die Schuld für die Vereinsamung der Menschen. Und dies zu einer Zeit als es noch kein Internet gab. Insofern ist «Elementarteilchen» ein visionäres Buch. Visionär auch im Sinne einer Science Fiction im letzten Kapitel. Auf der Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnisse des Molekularbiologen Michel Djerzinski, gelingt es die zweigeschlechtliche Fortpflanzung, also die Sexualität, abzuschaffen und ein perfekt geklonter, geschlechtsloser Mensch zu erschaffen, jenseits des Egoismus und sexuellen Elends. Am Ende des Buches wird einem klar, dass der Erzähler selber zu dieser neuen Spezies gehören muss und deshalb die Geschichte von Bruno und Michel so geschrieben hat, wie er sie geschrieben hat.

Definitiv nichts für literarische Beckenrandschwimmer.
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