April 4, 2019 / erstellt am:  April 27, 2019
Gestaltung, Illustration, Architektur, Literatur / Bewertung: 6

Das Leben ist gut

Auf dem Weg zur Arbeit ist mir dieses Haus aufgefallen. Es ist nicht wirklich schön. Eher etwas seltsam. Zusammengebastelt. Verwinkelt. Aber ideal um grafisch in schwarz und weiss umzusetzen. Dachte ich. Vor allem wenn nachmittags die Sonne darauf scheint und das Spiel aus Licht und Schatten prägnante Formen hervorbringt. Wieviel kann weggelassen werden, was muss hinzugefügt werden, so dass man die Architektur immer noch begreift? Linien verschwinden und bleiben dennoch sichtbar, weil sie logisch ergänzt werden. Störendes verschwindet im Dunkeln.

Eigentlich sind es zwei Häuser. Aneinandergebaut. Ein fünfstöckiges Wohnhaus neben einer Bar – die Galicia Bar an der Unterführungsstrasse in Olten. Eine vielbefahrene Strasse in der Nähe des Bahnhofs. Zentral gelegen. Kein schöner Ort zum Verweilen. Zu viel Lärm von vorbeifahrenden Autos und Lastwagen. Und dennoch ideal für eine Bar. Hier ruft keiner die Polizei, wenn ein Konzert mal ein bisschen länger dau­ert. Oder wenn nachts auf dem Trottoir gelacht wird.

Die Galicia Bar gibt es seit 1969. Sie wurde gegründet von galizischen Fabrik- und Bauarbeitern, die wochentags in Baubaracken und Dachkammern hausten und in ihrer Freizeit einen Ort brauchten, an dem sie miteinander reden und tanzen, essen und trinken, Musik machen oder auch einfach mal Real-Barcelona gucken konnten. Dieser Ort ist die Galicia Bar noch immer.
Zwar haben sich die Zeiten geändert. Viele Galizier der ersten Generation sind während der Boom-Jahre nach Spanien zurückgekehrt, und ihre Kinder, die mit der Galicia Bar aufgewachsen sind, wohnen längst nicht mehr in Baracken oder Dachkammern, sondern in komfortablen Wohnungen. Aber auch wenn heute fast jeder einen Flachbildschirm und einen privaten W-Lan-Zugang hat, braucht es doch weiter einen Ort wie die Galicia Bar, in der wirkliche Menschen einander real begegnen.
Denn die wirklich wichtigen Dinge des Lebens geschehen nicht im Internet. Freundschaft und Liebe brauchen einen realen Ort, an dem sie sich entfalten können. Fürs Essen braucht‘s Messer und Gabel, fürs Trinken einen Tresen. Musik, Theater und Literatur brauchen eine Bühne. Wer spielen will, braucht richtige Karten, ein reales Schachbrett oder einen echten Billardtisch.
Für all das steht die Galicia Bar. Unsere Bar führt ein hochwertiges Sortiment mit vielen lokalen Produkten zu moderaten Preisen, und im Keller braut die Hausbrauerei «Drei Tannen» das einzige echte Oltner Bier. Es ist herb und würzig, mit Sorgfalt ohne künstliche Zutaten gebraut. (Alex Capus, 7. Mai 2014)

Ich wollte mehr erfahren. Wer hat dieses Haus gebaut? Welche Geschichte steckt dahinter? Meine grafische Umsetzung nach fotografischer Vorlage war bereits fertiggestellt, als ich durch Recherchen auf Alex Capus und seinen Roman «Das Leben ist gut» gestossen bin. Ein glücklicher Zufall. Wann geschieht es schon, dass ein ganzer Roman über ein Haus geschrieben wird. Ich wusste nicht, dass der Barbetreiber auch ein Schriftsteller ist. Ein erfolgreicher sogar.

In seiner äusseren Erscheinung ist das Häuschen ein architektonischer Witz mit seinen absonderlichen Proportionen. Während es im Erdgeschoss ein recht imposantes Bauwerk ist mit vier Meter hohen Räumen und altem Eichenparkett, zwei grosszügigen Schaufenstern und einer hübschen Kunststeinfassade mit einem Hauch von Art déco, folgt über dem vornehmen Parterre nicht der zu erwartend kleine Wolkenkratzer, sondern nur eine Art hölzerner Dachboden und ein ziegelgedecktes Satteldach.
Die Bescheidenheit des Oberbaus steht in keinem Verhältnis zu den massiven Fundamenten; das Haus ist das Gegenteil eines Sitzriesen, sozusagen ein Stehzwerg. Diese Charakteristik verdankt es seinem Erbauer, dem Malermeister Jules Weber, dem am 3. März 1925 im Stadthaus ein Baugesuch für einen hübschen kleinen Wolkenkratzer einreichte. (Aus «Das Leben ist gut» von Alex Capus)

Auf dem Weg zur Arbeit ist mir dieses Haus aufgefallen. Die Auseinandersetzung damit hat sich gelohnt. Neben der grafischen Umsetzung habe ich auch einen neuen Schriftsteller kennengelernt. Inzwischen habe ich bereits seinen zweiten Roman gelesen.
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