July 23, 2015 / erstellt am:  August 8, 2015
Reise, Ferien, Deutschland, Berlin

Dit is jebongt und allet in Butta

Mit 368 Metern ist er das höchste Bauwerk Deutschlands sowie das vierthöchste freistehende Bauwerk Europas (Wikipedia). Wie ein Leuchtturm steht der Berliner Fernsehturm am Alexanderplatz, hilft zur Orientierung und ist ein beliebtes Fotosujet. Täglich habe ich ihn aus verschiedenen Perspektiven und Blickwinkeln fotografiert. Das Weitwinkelobjektiv habe ich allerdings in unserem Hotel liegen gelassen. Dabei wollte ich den Telespargel, wie er in vielen Reiseführern als typisches Berliner Beispiel eines spöttischen Spitznamens genannt wird, von der gegenüberliegenden Aussichtsterrasse auf dem Hotel Park Inn by Radisson damit fotografieren.

Der Fernsehturm am Alexanderplatz stand im Osten Berlins unweit der Mauer, die Berlin in Ost und West teilte. Davon ist kaum noch etwas ersichtlich, wird aber für Touristen mehrfach inszeniert und präsentiert. Mehr als 25 Jahre nach dem Fall der Mauer sind in den verschiedenen Stadtteilen kaum noch Unterschiede zwischen Ost und West ersichtlich. Nur vereinzelt sieht man noch alte, baufällige Fassaden in den ansonsten renovierten Strassenzügen sowohl im ehemaligen Westen wie im ehemaligen Osten. Auch Plattenbauten gab es nicht nur im Osten. Angeblich soll es noch heute viele vor allem statistische Unterschiede zwischen Ost und West geben, die jedoch nicht sichtbar sind.

Uns interessierte aber eher das heutige Berlin mit seinen Museen, Galerien, Theatern und aktuellen Besonderheiten. Als solche ist zum Beispiel das ehemalige Flugfeld Tempelhof zu erwähnen. Ein riesiges Feld mitten in der Stadt, das brach liegt. Der Flugbetrieb wurde am 30. Oktober 2008 eingestellt und seither ist unklar, was damit geschehen wird. Oder eine andere Besonderheit ist das Badeschiff auf der Spree. Da wohl aus hygienischen Gründen niemand Lust hat direkt im Fluss zu baden, schwimmt ein umgebauter Lastkahn auf der Spree, welcher aus einem grossen, beheizbaren Wasserbecken besteht. Im Winter wird der Pool überdacht. Direkt daneben gibt es einen künstlichen Sandstrand mit Liegen, Barbetrieb und Musik.

Die Stadt Berlin ist mit über 3,4 Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichste und mit 892 Quadratkilometern die flächengrösste Gemeinde Deutschlands sowie nach Einwohnern die zweitgrösste der Europäischen Union (Wikipedia). Obwohl in Berlin (vor allem im Zentrum) die meisten Menschen zugezogen sind und nicht geborene Berliner, konnten wir den Berliner Dialekt immer wieder hören: «Dit is jebongt und allet in Butta». Angeblich wird die Berliner Schnauze zunehmend als Proletendeutsch bezeichnet und immer unbeliebter.

Dank dichtem U- und S-Bahnnetz kommt man in Berlin schnell von einem Stadtteil in den nächsten. Es spielt also kaum eine Rolle wo man übernachtet. Unser Hotel war dieses Mal beim Kurfürstendamm beim zoologischen Garten. Da die U-Bahnen im Sommer nicht klimatisiert sind, kann es recht heiss und stickig werden. Darum sind wir mit der Zeit auf die Busse umgestiegen, die ebenso über ein dichtes Liniennetz verfügen. So war es ein leichtes, pro Tag gleich mehrere Ausstellungen oder Museen zu besuchen.

Am Eindrücklichsten und auch Sonderbarsten war eine Kunstausstellung von Tino Sehgal im Martin-Gropius-Bau. Auch wenn der Berliner Künstler den Ausdruck Performance nicht mag, handelt es sich bei seinem Werk um performative, vergängliche Aktionen, die sich in keinen materiellen Kunstobjekten äussern. Er konstruiert Situationen. Sein Medium sind die menschliche Stimme, körperliche Bewegungen und soziale Interaktionen. Man betritt einen Raum und weiss nicht, wer Zuschauer und wer Schauspieler ist. Erst mit der Zeit findet man heraus, dass wer sich seltsam verhält oder komische Geräusche von sich gibt wohl Teil der Aktion sein muss. Was ist vorgegeben und was sind spontane Elemente? In zwei der fünf Räume ist es stockdunkel. Jedenfalls zu Beginn. Mit der Zeit gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit und können mit Hilfe des Restlichtes des Eingangs Personen erkennen. Im Schutze der Dunkelheit fühlte ich mich unerkannt und begann selber seltsame Geräusche von mir zu geben, was angeblich vom Künstler durchaus erwünscht ist. So wurde ich Teil des Kunstwerkes. Nur berühren durfte man die Körper nicht, was ich mich nie gewagt hätte. Aber in einem dunklen Raum wo eine nackte Frau und ein nackter Mann sich innig berührten gab es einen Aufpasser, welcher die Besucher daran hinderte, den Nackten zu nahe zu kommen. Es war ein intensives Erlebnis und hat mein Verständnis von Kunstwerk durchaus erweitert.

Eine andere Art von Kunstwerk bot das Improvisationstheater Ratibor mit «Gurke oder Banane». Drei Regisseure kämpften um die Gunst des Publikums, welches den Sieger des Abends küren sollte. Gekämpft wurde mit Regiearbeit - wer holt das meiste aus den Vorschlägen des Publikums heraus? Die anderen Regisseure mussten als Spieler herhalten. Gute Regisseure bekamen eine Banane, schlechte bissen in die saure Gurke. Seit 1997 wird diese Show geboten und diese langjährige Erfahrung ist spürbar im Können der vier Schauspieler, die spontan auf jede Situation zu reagieren wussten. Improvisationstheater lebt vom unmittelbaren Austausch zwischen Bühne und Publikum. Das Spiel entsteht nach den Vorschlägen der Zuschauer. Improtheater ist lebendig, hautnah, unmittelbar, unberechenbar, im wahrsten Wortsinn: einmalig.

Leider etwas enttäuschend war die Vorstellung der «Mummenschanz» in der komischen Oper. Die Schweizer Maskentheatergruppe hat sich nicht weiter entwickelt und bringt dieselben Nummern seit vierzig Jahren. Vielleicht war das Theater auch einfach zu gross, so dass kleine intime Momente im Raum verloren gingen.

Im historischen Museum ging es in einer grossen Sonderausstellung um Homosexualität oder besser plural: Homosexualitäten. 150 Jahre Geschichte, Politik und Kultur homosexueller Frauen und Männer in Deutschland: «Sie legt dar, wie gleichgeschlechtliche Sexualität und nonkonforme Geschlechtsidentitäten von der Gesetzgebung kriminalisiert, von der Medizin pathologisiert und gesellschaftlich ausgegrenzt wurden. Sie zeigt die rechtliche Entwicklung des Paragraphen 175 des Deutschen Strafgesetzbuches auf, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, von seinem Inkrafttreten im Jahr 1872, über die massive Verschärfung während der NS-Zeit und seine Beibehaltung bis zur endgültigen Abschaffung 1994. Neben den gesellschaftlichen Repressionen widmet sich die Ausstellung auch der Lesben- und der Schwulenbewegung, die insbesondere seit der gesetzlichen Liberalisierung seit den 1960er Jahren an Dynamik gewannen und das gesellschaftliche Verständnis von geschlechtlicher Identität verändert haben.»

Es begann mit privaten Erinnerungen an das Coming-Out. Gefolgt von einer Bildergalerie mit Frauenporträts und Frauenpaaren. Wo sind da die Männer geblieben? Verstörend die aggressiv homophonen Äusserungen von Politikern, Kirchenmännern und Hetzern. «Vor Gericht» heisst das Kapitel zu Strafgesetzen und Prozessen: Heute noch sind in über siebzig Staaten der Welt «homosexuelle Handlungen» verboten. Berührend der Gedenkraum «im Rosa Winkel», gewidmet den Homosexuellen während der Nazizeit inhaftiert und in Konzentrationslager deportiert wurden. Geblieben ist selten mehr als ein Name und ein Erkennungsfoto. Den Überlebenden wollte über Jahrzehnte kaum einer zuhören.

Eine gute und reichhaltige Ausstellung. Schade nur, dass wir zuwenig Zeit hatten, uns in jedes Thema zu vertiefen, weil das Museum um 18 Uhr dicht machte. Etwas mehr Zeit blieb uns für die verschiedenen Fotografieausstellungen, die wir besucht hatten. Besonders erwähnenswert ist dabei C/O Berlin im Amerika-Haus gleich beim Bahnhof Zoologischer Garten. Mit der Ausstellungsreihe «Thinking about Photograph» wird der Fokus auf aktuelle Tendenzen der zeitgenössischen Fotografie gelegt, wie zum Beispiel auf die Arbeiten der in Berlin lebenden Künstlerin Viktoria Binschtok. Mit ihrer konzeptuellen Fotografie erforscht sie zeitgenössische Bildwelten und bedient sich gleichberechtigt mit eigenen Fotografien aus dem Fundus des Internets. «Mich interessiert es herauszufinden, wofür Menschen Fotoapparate verwenden und was sie überhaupt für abbildungswürdig halten.»

Auch in der Ausstellung «Photo-Poetics» in der KunstHalle der Deutschen Bank beschäftigt sich eine konzeptuell orientierte Künstlergeneration mit der Wahrnehmung und Zirkulation von Bildern im digitalen Zeitalter. Allerdings sind die fotografischen Konzepte ohne erklärender Worte kaum fassbar. Es wird sich zeigen, ob konzeptionelle Fotografie, wie sie anscheinend zur Zeit stark im Trend ist, bestand haben wird. Und es stellt sich vor allem die Frage: Was kommt danach?

Ich war schon oft in Berlin und dennoch erlebe ich es immer wieder neu und ich weiss, dass ich es auch das nächste Mal wieder anders erleben werde.

Donnerstag 23.07.2015
art'otel berlin kudamm
Joachimstaler Strasse 28-29 Berlin

℅ Berlin Amerika Haus: Fotoausstellungen Viktoria Binschtok, Sebastião Salgado
Hardenbergstrasse 22-24

Deutsche Bank KunstHalle: Photo-Poetics
Unter den Linden 13/15

Komische Oper Berlin: Mummenschanz
Behrenstraße 55-57

Freitag 24.07.2015
Galerie Heike Arndt: Fresh Legs
Voigtstrasse 12

Museum in der Kulturbrauerei: Traum und Tristesse (Fotografien von Harald Kirchner)
Knaackstrasse 97

Deutsches Historisches Museum: Ausstellung Homosexualität_en
Lützowstrasse 73

Hotel Park Inn by Radisson: Aussichtsterrasse (öffentlich zugänglich)
Alexanderplatz 7

Hotel Radisson Blue: Aquarium in der Lobby (nur zum anschauen)
Karl-Liebknecht-Strasse 3

Samstag 25.07.2015
Kunstbibliothek: Fotografien von Mario Testino
www.ifskb.de / Matthäikirchplatz 8

Martin-Gropius-Bau: Tino Sehgal
Niederkirchnerstraße 7

Badeschiff (auf der Spree)
Eichenstrasse 4

Ratibor Theater (Impro-Theater): Gurke oder Banane
Cuvrystrasse 20a

Sonntag 26.07.2015
Park und Schloss Sanssouci
Potsdam

Filmtheater am Friedrichshain: Men and Chicken
Bötzowstraße 1-5

Montag 27.07.2015
Berlinische Galerie: Museum für moderne Kunst
Alte Jakobstrasse 124-128

Tempelhofer Feld
öffentlich zugänglich

KW Institute for contemporary Art: Fire and Forget
Auguststrasse 69

Dienstag 28.07.2015
Künstlerhaus Bethanien: Fan-Verhalten und Kunst
Kottbusser Strasse 10

König Galerie: Andreas Fischer
Alexandrinenstrasse 118-121

Weitere Fotografien sind auf meinem Flickr-Account zu sehen
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