January 10, 2015 / erstellt am:  February 8, 2015
Gedanken, Leben, Vergangenheit, Lebensabschnitt

Abschied von der Vergangenheit oder die Hausräumung

Mein ehemaliges Zuhause ist schon lange nicht mehr mein Zuhause. Darum macht es mir auch nichts aus, wenn bald schon andere Menschen in dem Haus wohnen werden. Aber bevor dies geschieht, muss es noch geräumt werden. Unweigerlich werde ich mit meiner Vergangenheit konfrontiert, wenn ich mich in dem Haus aufhalte, wo ich aufgewachsen bin. Wenn ich all die alten Möbel und Gegenstände sehe, die ich als Kind und Jugendlicher täglich gesehen habe, könnte ich sentimental werden. Der Nostalgiker trauert der vergangenen Zeit nach. Aber ich habe damit abgeschlossen und widme mich der Aufgabe mit mehr oder weniger distanzierter Abgeklärtheit.

Es ist als ob meine Mutter gestorben wäre. Ein unschöner Gedanke. Dabei ist sie nur umgezogen, weil wir fanden, dass sie im grossen Haus mit ihren 70 Jahren mit gesundheitlichen Problemen langsam aber sicher überfordert wurde. Umziehen vom freistehenden Einfamilienhaus in eine altersgerechte 2-Zimmer-Wohnung. Sicher kein einfacher Schritt. Ihre Überforderung zeigte sich unter anderem darin, dass sie nichts aber auch gar nichts im voraus aufräumte, obwohl sie wusste, dass sie umziehen würde. Es schien auch als ob sie nie etwas weggeworfen hätte. Eine Ansammlung von 40 Jahren Leben musste gesichtet und schliesslich grösstenteils entsorgt oder verschenkt werden. Nur ein Bruchteil davon konnte sie in der neuen Wohnung gebrauchen und unterbringen.

Obwohl ich selber schon seit mehr als 20 Jahren aus dem Elternhaus ausgezogen bin, fand ich unzählige Dinge, die mich an meine Kindheit und Jugend erinnerten. Da standen meine geliebten Jugendbücher wie zum Beispiel «Die Abschlussfeier» von Hans-Georg Noack oder «Ein nützliches Mitglied der Gesellschaft» von Barbara Wersba, immer noch im selben Bücherregal, wo ich sie nach der Lektüre hingestellt hatte. Ebenso einige Bücher, die ich im Deutschunterricht im Gymnasium lesen musste oder die ich als Maturlektüre auswählte. Ich habe sie allesamt weggeworfen, weil mein heutiges Bücherregal bereits überfüllt ist und ich sie sowieso niemals mehr lesen würde. In einer Schublade fand ich meine alte Briefmarkensammlung. Zum Teil nach Jahren in Alben eingeordnet, in beschrifteten Couverts sortiert oder lose in Schachteln herumliegend. Eine Sammlung, die mich damals selber überforderte, weil ich mich nicht auf ein Land oder ein Thema beschränken konnte. Ich habe sie weggeschmissen in der Annahme, dass dies längst geschehen wäre und im Bewusstsein, dass vielleicht auch einige wertvolle Exemplare darunter waren. Ich sammelte Briefmarken als Kind, weil mein Bruder Briefmarken sammelte, aber verlor relativ schnell das Interesse daran.

Obwohl ich mir vorgenommen hatte, nichts mitzunehmen, habe ich einige wenige Objekte eingepackt. Nichts wertvolles, eher Objekte der Erinnerung, wie zum Beispiel ein alter analoger Fotoapparat der Zeiss Ikon AG (hergestellt 1957). Er erinnert mich an meinen Vater, der nur in den Ferien fotografierte, wie man es eben so tat. Er war kein leidenschaftlicher Fotograf. Angeblich sei der Fotoapparat noch funktionsfähig, ebenso wie das alte Metronom, welches mehr zu Dekorationszwecken auf dem Klavier stand, als dass es gebraucht wurde. Es erinnert mich an meine langjährige Leidenschaft als Klavierspieler. Die alten gerahmten Fotografien der Hochzeit meiner Grosseltern mütterlicherseits sind einfach nur schön anzuschauen. Meine bescheidene Schallplattensammlung habe ich auch eingepackt, obwohl ich keinen Plattenspieler mehr habe um sie zu hören.

Ich fand auch einige Kuriositäten wie zum Beispiel einen Kurvenmesser. «Der Kurvenmesser ermittelt die Kilometerzahl von Entfernungen auf Karten und Plänen in den auf der Skala angegebenen Massstäben.» Ein Werkzeug, welches wahrscheinlich mein Vater als Vermessungstechniker gebrauchen konnte, aber seit Jahren unbenutzt in einer Schublade lag. Die gläserne Orangenpresse oder der harfenähnliche Eierschneider sind Objekte, die ich fotografieren will, weil sie mir als formschöne Gegenstände gefallen. Der Bürgerbrief, den ich 1990 von meiner Wohngemeinde erhielt, bestätigt mir mit dem Erreichen der Volljährigkeit in den Kreis der aktiven Stimmbürgerinnen und Stimmbürger aufgenommen worden zu sein.

Die Schuttmulde vor dem Haus ist bis zum Rand gefüllt. Vieles davon hätte man noch gebrauchen können. Aber wir brauchen es nicht mehr, weil wir selber schon genug davon haben. Nichts davon werde ich vermissen. Ballast ist eine Last, die schwer wiegt, nicht nur was das Gewicht betrifft. Es ist geradezu befreiend sie loszuwerden. Natürlich geht auch etwas verloren. Nichts Materielles. Eher ein Gefühl. Ein Gefühl von Geborgenheit. Viele Jahre lang, auch noch als ich bereits ausgezogen war, war dieses Haus wie ein sicherer Hafen, den ich jederzeit ansteuern konnte. Dieser sichere Hafen gibt es nun nicht mehr. Aber ich habe mir einen neuen Hafen aufgebaut. Ein neues Zuhause. Es ist ein Abschied von meinem alten Zuhause. Ein Abschied von einem Haus mit all seinen Gegenständen und ein Abschied von meiner eigenen Vergangenheit, die jedoch immer in meiner Erinnerung bleiben wird.


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