May 29, 2016 / erstellt am: May 29, 2016 aufgefallen, Fotografie, Kunst, Buch, Fotobuch Enzyklopädie des Augenblicks«Da gibt es Francisco Carrascosa, weiss, heterosexuell, Spanier in der Schweiz, der fünf Bücher zu je 528 Seiten entworfen hat, die zutiefst fotografisch und auch zutiefst voyeuristisch sind. Jemand, der weder politisch korrekt noch sozial engagiert sein will, sondern seiner elementaren Schaulust folgt und wie ein Baudelaire'scher Flaneur des 21. Jahrhunderts durch die Welt zieht. Ein intensiver, endloser Fluss des Schauens, des Aufgeregtseins, fast ein Potlatsch des puren Sehens, Sehens, Sehens öffnet sich zwischen den Buchdeckeln. Ein Sehen, das wie Riechen anmutet, das den Instinkten und Objekten folgt, um über sie die Welt zu erspüren.» (Urs Stahel lebt und arbeitet als selbstständiger Autor, Kurator, Lehrer und Berater in Zürich. Er war Gründungsdirektor des Fotomuseums Winterthur und von 1993 bis 2013 dort als Kurator tätig.)Das Fotobuchprojekt «Johnnie Walker on the beach» von Francisco Paco Carrascosa weckt einen zwiespältigen Eindruck bei mir. Einerseits fasziniert und andererseits irritiert. Es ist eine Bilderflut unzähliger, belangloser Fotografien. 2640 um genau zu sein. Die ungeschminkte Realität als verbindendes Element. Viel zu viel um sie alle bewusst aufnehmen zu können. Eine mentale und physische Herausforderung, die viel Konzentration und Zeit beansprucht. Fasziniert aber zugleich auch irritiert von der mir völlig fremden Herangehensweise des Fotografierens. Der Fotograf hält auf seinen Streifzügen kurze Augenblicke fest ohne Anspruch kompositorisch wertvolle Fotografie erzeugen zu wollen. Keine raffinierten visuellen Höhepunkte. Wild drauflos geknipst mit einer kleinen Digitalkamera, die weniger auffällt als eine professionelle Kamera. Dementsprechend schlecht ist zum Teil die Qualität der Aufnahmen. Insbesondere wenn er stark einzoomte, was an Paparazzi-Bilder erinnert. Auch Unschärfe oder verpasste Momente lässt er gelten. Und dennoch hat er eine Auswahl getroffen. Eine Auswahl aus über 26'000 Fotografien, entstanden während 5 Jahren auf Spaziergängen in verschiedenen Ländern. Eine ununterbrochene Folge von spontanen Eindrücken. Fasziniert von der Hemmungslosigkeit Privates und Intimes zu fotografieren. «Ob gleich in öffentlichen, urbanen Räumen aufgenommen, erwischt Carrascosa die Menschen häufig in einer intimen Privatheit. Verträumte Blicke, in Gedanken versunkene Passanten, Paare beim Austausch von Zärtlichkeiten, Strandszenen, all das und noch viel mehr hielt Carrascosa hemmungslos fest. (…) Neben der öffentlichen Straße wecken auch Balkone als eine Schwelle zwischen Privatheit und öffentlichem Raum das Interesse des Fotografen. So zoomt er sich auf diese Bühne, fotografiert die gebotenen Szenen und verleiht ihnen temporäre Wichtigkeit. Carrascosa scheut es jedoch nicht, die Grenzen zu überschreiten und auch in Fenster zu blicken. Somit wird der Buchbetrachter zum Komplizen, zum Mitschuldigen, wenn es um die nun tatsächliche „Verletzung“ der Privatsphäre gehen sollte. Überhaupt wirkt Carrascosas Fotoprojekt wie ein Aufschrei gegen die sich in den letzten Jahren aufgebaute Hysterie über das Fotografieren auf der Straße und die zahlreichen juristischen Prozesse, die inzwischen geführt wurden. Carrascosa setzt sich schwungvoll über alle Reglementierungen hinweg und fotografiert alles, was ihm im öffentlichen Raum, aber auch in privaten Nischen auffällt. Furchtlos drückt er ab, wo andere aus angezüchteter Angst vor Konsequenzen den Auslöser unberührt lassen.» (Denis Brudna ist seit 1989 Herausgeber der Zeitung «PHOTONEWS») Irritiert von der Banalität der Bilder. Das Einzelbild ist oft banal und bedeutungslos. In der Abfolge entstehen kurze Geschichten, die aber genauso belanglos und beliebig sind wie das Einzelbild. So ist das Leben, könnte man sagen. Oft banal und bedeutungslos. Die Frage ist nur, ob man dies auch bildhaft festhalten muss und erst Recht, ob man dies in einem bzw. mehreren Büchern publizieren muss. Alles, was sichtbar ist, ist auch fotografierbar. Aber welche Situationen sind es wert fotografiert zu werden? Oder ist es einfach nur eine künstlerische Antwort auf die gegenwärtige Bilderflut? Auf jeden Fall wirft das Fotobuchprojekt Fragen auf. Was schon mal gut ist. Es irritiert und fasziniert mich gleichzeitig. Was ebenfalls schon mal gut ist. Ansonsten wäre es mir wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Und natürlich ist es mir aufgefallen, weil ich ähnliches tue, jedoch mit einer völlig anderen Herangehensweise. Francisco Carrascosa wurde 1958 in Valencia geboren. Er lebt und arbeitet in Zürich als Künstler und Fotograf. Der Titel «Johnnie Walker on the beach» sei inspiriert von der Figur Johnnie Walker aus Karuki Murakamis Roman «Kafka am Strand». Eine Figur als Symbol für das «In-Bewegung-Sein». |