May 3, 2017 / erstellt am:  May 4, 2017
aufgefallen, gefallen, Film

Eine Reise ans Ende einer Berliner Nacht in Realzeit

Lange ist es her, dass ich einen Film gesehen habe, der mich so derart fasziniert hat. Sowohl von der Geschichte, den Schauspielern als auch von der Machart her.
Der Film «Victoria» von Sebastian Schipper wurde in einer einzigen Kameraeinstellung gedreht, zwei Stunden und zwanzig Minuten lang, ohne Schnitt und ohne Pause. Die fünf Hauptfiguren treten auf, die Kamera heftet sich an sie und verlässt sie nicht mehr, bis zum Schluss der Geschichte. Dabei ist es nicht so, dass der Film an einem einzigen Ort spielte. Nein, die Protagonisten wechseln mehr als ein Dutzend Mal ihre Umgebung: unterirdischer Club in Berlin, Hochhausdach, Tiefgarage, Hotelsuite… und die Kamera ist immer ganz nah dran. Manchmal etwas verwackelt oder unscharf, aber als Zuschauer hat man das Gefühl mit dabei zu sein. Ein hirnrissiges Experiment, ein fantastischer Film, ein wahres Kunstwerk.

Ohne Vorkenntnisse und damit ohne Erwartungen habe ich diesen Film gesehen. Sicher ein Vorteil, weil ich mich ungestört auf die Handlung einlassen konnte. Zuerst dachte ich noch, es sei so ein Frauenfilm (wegen dem Titel), bei dem es um die Befindlichkeiten einer Frau in der Grossstadt geht. Darum geht es auch, zu Beginn, wenn man Victoria, eine junge Frau aus Madrid, kennenlernt und wenn sie auf dem Heimweg nach einer durchtanzten Nacht den vier Berliner Jungs auf der Strasse begegnet. Was haben sie vor? Was sind ihre Absichten? Haben sie überhaupt Absichten? Meinen sie es gut mit Victoria? All diese Gedanken bauen die Spannung auf und lassen den Zuschauer bei der Geschichte bleiben, weil er die Antworten erfahren will. Victoria kennt noch nicht viele Leute in Berlin. Sie sucht Kontakt und lässt sich darum auf die spontane Begegnung ein. Noch wusste sie nicht, dass diese Begegnung am Ende der Nacht ihr Leben verändern würde.

«Drei Monate lang hat Schipper mit seinen Hauptdarstellern geprobt, mit Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff. Dann gab es drei Durchläufe. Mehr waren nicht vorgesehen, um es zu schaffen. Im ersten, so erzählt es Schipper nach der Premiere in Berlin, lief alles fehlerfrei. Alle wussten, was sie zu tun hatten, keiner stolperte, keiner fiel aus der Konzentration oder bekam einen Lachanfall. «Aber es war kein Film», sagt Schipper. Too perfect. Sie mussten mehr Wahnsinn wagen. Das wurde der zweite Durchlauf, von dem Franz Rogowski sagt, er habe danach die Hosen voll gehabt, weil ihm Schipper freundlich, aber bestimmt auseinandergesetzt hätte, dass das noch nicht die Leistung sei, die er sich für den dritten, finalen Take erhoffe.

In diesem letzten Versuch zündete dann der Funke. Es entstand ein filmisches Feuerwerk. Und wenn man denn so will, ist Sturla Brandth Grøvlen der Pyrotechniker. Der norwegische Kameramann wirkt äußerst zurückhaltend und sehr höflich. Er ist jung, kaum 30 Jahre alt und schmal. Man fragt sich, ob er nicht im Fitnessstudio trainieren musste, bevor er sich an diesen Dreh machte: knapp zweieinhalb Stunden lang eine mehrere Kilo schwere Kamera zu tragen, mit ihr zu rennen, treppauf treppab, in Autos hinein und wieder hinaus, ganz zu schweigen von der Aufgabe, dabei das sich ständig ändernde Licht im Blick zu behalten und natürlich die Schauspieler, die ja ohne feste Dialoge sprachen.» (Wenke Husmann, die Zeit, 8. Februar 2015)

Diese in-einer-einzigen-Kameraeinstellung-gedreht-Sache ist natürlich nur ein formaler Aspekt. Wäre die Geschichte schlecht oder die Schauspieler unfähig, würde alles nichts nützen. Das Formale unterstützt jedoch die Handlung. Als Zuschauer bin ich zwei Stunden und zwanzig Minuten voll dabei, ohne Pause. Nur das Ausblenden des Originaltons und das Einblenden ruhiger Musik verschafft etwas Verschnaufpausen. Das Timing ist entscheidend. Nie wird es langweilig. Es gibt keine Durchhänger. Alle Dialoge sind improvisiert und wirken dadurch umso authentischer. Im Verlaufe der Geschichte, habe ich mich ständig gefragt, wie haben sie das nur gemacht, ohne dabei den Faden zu verlieren. So vieles hätte falsch laufen können. Es gab nur diesen einen Moment. Dieses hin und her zwischen diesen beiden Ebenen, hat mich fasziniert. Es braucht eine unglaubliche Planung und Vorbereitung. Alles muss bedacht sein. Und am Schluss wirkt der Film - im wahrsten Sinne des Wortes - wie aus einem Guss und überhaupt nicht konstruiert.

Es wurde natürlich viel über diesen Film geschrieben. Gelobt und gemäkelt. Aber am besten liesst man all die Rezensionen und Kommentare erst im Nachhinein um sich zuerst eine eigene Meinung bilden zu können. Ich auf jeden Fall bin absolut begeistert und lache nur über die Kommentare der Klugscheisser und Ewignörgler, die nur glücklich sind, wenn sie alles mies machen können. Für mich war es ein aussergewöhnliches und intensives Filmerlebnis.

Obwohl diese One-Take-Sache nicht die Neuigkeit der Filmgeschichte ist, wird dieser Film zumindest in die deutsche Filmgeschichte eingehen.

Pressedokumentation

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